Fakten und Überlegungen
aus Rillen und Naepfchen, der freien Wissensdatenbank
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Der Name Wetzrillen suggeriert – bis auf weiteres unbewiesener-. ja eher unwahrscheinlichermaßen -, "durch Schleifen an einem harten Gegenstand [wieder] scharf machen, schärfen“ (Duden, Das große Wörterbuch der deutschen Sprache). Allgemeinere Aussage bietet der Ausdruck „Schabespuren“, den ich daher verwenden werde. Die bislang gefundenen Schabespuren lassen sich drei Typen zuordnen:
a) schmale, häufig lange Ritzen geringer Tiefe (R; „Schwertrilllen“, „Schwedenhiebe“). Zwischen 10 und 10cm lang, wenige mm breit und tief. Bild unten: Heilsbronn, Spitalkapelle (Foto: H.S.)
b 1) schiffchen- oder kahnförmige Ausschabungen (S; nach unseren Funden der weitaus häufigste Typ. Häufig am unteren, selten am oberen Ende breiter ausgebaucht. Querschnitt V- oder U-förmig) In den Abmessungen stark differierend, meist ca. 15 – 20 cm lang, 3cm breit und 2cm tief. Sie überschneiden fast nie die Fugen im Mauerwerk; bislang bekannte Ausnahmen: die ehem. Synagoge in Memmeldorf/Ufr., Siebersturm in Rothenburg/o.T. (PS), Dorfkirche in Zell (H. P. Probst). Bild unten: Gunzenhausen, St. Marien (Foto: P.S.)
Inwieweit die von U. Quack für die schwedische Insel Gotland beschriebenen Schleifrinnen (slipskåror) auf Granit- und Kalksteinfindlingen zu unserem Thema gehören, ist vorläufig unklar. Es seien über 3.000 dieser Rinnen – verteilt über ganz Gotland – gefunden worden; die Abmessungen betragen meist 70 – 110 cm in der Länge, 7 – 10 cm in der Breite und 1 – 7 cm in der Tiefe. Sie dürften eher den von W. Eitelmann aufgelisteten prähistorischen Rillen, Furchen und Schälchen zuzuordnen sein.
b 2) schiffchenförmige Schabungen auf Backstein, meist an norddeutschen Kirchen der Backsteingotik. Die S sind – Dank des Backsteinformats und weil auch hier Fugen nicht überschnitten werden – relativ kurz, meist senkrecht, selten schräg. Querschnitt U-förmig. Bild unten: Greifswald, St. Marien, lks. des Südportals. Foto PS, Aug. 2002)
c 1) kreisrunde, näpfchen- oder schalenförmige Eintiefungen (N) von oft auffälliger Symmetrie. Durchmesser um 2 – 8 cm, Tiefe um 1,5 – 3 cm. Bild unten: Effeltrich, Mauer-Äußeres rechts neben dem Tor zum Hof der Wehrkirche. (Foto: P.S.)
c 2) Näpfchen auf Backstein, meist an Backsteinkirchen Norddeutschlands. Wesentlich kleiner als die N auf Sandstein. Wohl aufgrund der Materialbeschaffenheit auch nicht von so idealer Kugel-Kalotten-Gestalt. Abbildung unten: Stralsund, St.-Jakobi-Kirche, rechts des westl. Nordportals. Foto PS, Aug. 2001)
An der „Seekapelle“ in Bad Windsheim (Bild WDSH 1, s.u.), an der Nikolauskirche in Henfenfeld (Bild Henfenfeld1), an einem Gebäude in Öhringen (Bild Öhringen2) und im Kloster Maulbronn gefundene exakt kreisförmige, wie mit dem Zirkel gezogene Einritzungen von ca. 8 cm (10, 20 cm) Durchmesser erachte ich b.a.w. als Unikate und nicht zum angesprochenen Thema gehörig.
Um die Bedeutung der Schabespuren, Ritzen und Näpfchen (im Weiteren S, R oder N) klären zu können, wären vor allem folgende Fragen zu erörtern: 1.) WANN hat 2.) WER mit 3.) welchem WERKZEUG und 4.) zu welchem ZWECK diese Male auf Steinen angebracht.
zu 1.) Zeitstellung. Nach Prof. Dr. Walter Haas sind S und N an der ergrabenen alten Westmauer der Coburger Moritzkirche aufgrund baugeschichtlicher Daten „vor der Mitte des 15. Jh. entstanden.“ Nach. A. Leistner lagen besagte Marken „seit dem Baubeginn des Westbaus um 1420/30 unter dem Boden. Somit müssen sie spätestens im 15. Jh., frühestens im 13. Jh. zustandegekommen sein.“
An einem Innentor des Thurnauer Schlosses ist eine Serie von mehreren S mit der Jahreszahl 1658 überschrieben, sie ist also in früheren Jahren entstanden (PS).
An einer mit 1787 datierten, wahrscheinlich schon kurz nach 1744 entstandenen Mauer im unteren Hof der Plassenburg ob Kulmbach findet sich eine Vielzahl gut ausgeprägter S (PS).
Viele S an dem ehem. Brauhaus in Creußen (1806 [PS]).
Wenige S am ev. Pfarrhaus in Pegnitz (1825-29 [PS]).
Wenige S auch am "zweiten Pfarrhaus" in Lindenhardt (1835 [PS]).
Ralf v. Samson Himmelstierna hat um 1980 in Teterow viele Beispiele von N und S gefunden, wo noch 100 Jahre früher – also um 1880 – der Heimatforscher Pastor Krüger „ausdrücklich keine Zeugnisse findet“.
An der St.-Georgen-Kirche in Parchim fand Himmelstierna einen Stein mit einem Schälchen, das eindeutig erst nach 1908 eingedreht wurde.
J. Jünemann berichtet von Wetzrillen auf einem Grabstein in Göttingen, welche die eingemeißelte Inschrift von 1812 überschneiden und aufgrund ausgewiesener Lichtbilder zwischen 1940 und 1955 entstanden sein müssten.
Aus diesen Befunden lässt sich der Entstehungszeitraum der S etwa auf 1500 bis mindestens 1850 eingrenzen. Der besagte Zeitraum umfasst somit – wenigstens – die Baustile von Spätgotik, Nachgotik, Renaissance, Barock, Rokoko und Klassizismus. In die Epoche fallen – neben dem Auftreten endemischer und epidemischer Infektionskrankheiten wie Syphilis (ab etwa 1500), Fleckfieber, Scharlach, Pocken, Ruhr, Typhus und wiederholte Pestzüge (1600, 1604/05, 1613, 1626/27, 1633/34, 1713) – die folgenden, Glaubensnot, Verzweiflung, Elend, und Tod bringenden Ereignisse:
- Reformation (1517-50)
- Bauernkrieg (1524/25)
- Schmalkaldischer Krieg (1546/47)
- Gegenreformation (1555-1648)
- Dreißigjähriger Krieg (1618-48)
- Pfälzischer Erbfolgekrieg (1688-97)
- Span. Erbfolgekrieg (1701-14)
- Siebenjähriger Krieg (1756-63)
- der Amerikan. Unabhängigkeitskrieg (in dem auf englischer Seite ca. 30.000 deutsche Miet-Soldaten aus Braunschweig, Hessen-Kassel, Ansbach-Bayreuth und anderen dt. Kleinstaaten mitfochten; 1776-83)
- Kriege verschiedener Allianzen gegen Frankreich zwischen 1792 und 1805, der Preußisch-Napoleonische Krieg (1806/07) und der Deutsche Befreiungskrieg (1813/14).
Während der ganzen Zeitspanne erzwangen Landsknechtshaufen und Soldaten Quartier und Verpflegung, wuchsen sich Bettelunwesen und Räubertum vagierender Banden zu einer furchtbaren Landplage aus, der bis ins 19. Jh. hinein keine auch nur annähernd adäquate Polizeimacht gegenüberstand. Zu bedenken ist, inwieweit Katastrophen und permanente Bedrohungen dieser Art das Sozialgefüge, die Verhaltensnormen und -abnormitäten beeinflusst haben, und ob sie Ursache für gewisse, inzwischen in Vergessenheit geratene massenpsychologische Phänomene und dadurch bedingte Bräuche gewesen sind.
Jahreszeit. Sollten die S auf Pilger oder sonstige Reisende zurückgehen, so wäre anzunehmen, dass sie anlässlich des Aufbruchs oder glücklicher Heimkehr angebracht worden sind. Da die günstigste Reisezeit in unseren Breiten der Sommer war, wäre der Aufbruch wohl ins zeitige Frühjahr, die Heimkehr in den Herbst gefallen, solange das Wetter warm genug und die hohen Gebirgswege schneefrei waren. Man könnte fragen, ob man zu diesen Jahreszeiten nicht der wärmenden Sonne nachgegangen wäre und sein Zeichen an einer dem Süden zugewandten Seite angebracht hätte. Von daher könnte es sinnvoll sein, die S nach der jeweiligen Himmelsrichtung auszuwerten. (Tatsächlich zeigt sich bei meinem eigenen Fundmaterial eine Häufung der Schabezeichen an nach Süden weisenden Gebäudeteilen.)
Tageszeit. Was die Tageszeit anbelangt wäre zu überlegen, ob die S tagsüber und vor allen Leuten oder heimlich während der Nacht gemacht worden sind. Wofern – wie in Vorstehendem – die
Orientierung der Zeichen nach dem Sonnenstand als möglicherweise belangvoll erachtet wird, könnte man die Nacht als Entstehungszeit außer Betracht lassen. Viele S finden sich an Plätzen, an denen man auch nachts nicht hätte unbemerkt schaben können, da sie unter ständiger Bewachung standen (z.B. Stadt-, Burg- oder Schlosstore).
zu 2.) Als Urheber kommen Personen beiderlei Geschlechts ab einem Alter von etwa 10 Jahren in Betracht. Jüngeren Kindern dürfte es an Geschicklichkeit, Ausdauer und Kraft gemangelt haben, außerdem liegen manche S für Kinder zu hoch. Weitere Begrenzungen des in Betracht kommenden Personenkreises sind nicht ersichtlich, zumal besondere Sachkenntnis – etwa die eines Steinmetzen – nicht erforderlich ist. Darüberhinaus ist zu fragen, ob die S – einzeln oder in Serie – von ein-und-derselben Person oder von mehreren Personen gemacht wurden. Und: Wenn mehrere Personen beteiligt waren, geschah dies als gewollte Gemeinschaftsarbeit oder betätigte man sich eher gelegentlich, etwa so, wie Buddhisten in Vorbeigehen Gebetsmühlen in Bewegung setzen.
zu 3.) Als Werkzeug könnten spitz, rund oder in einer schmalen Schneide auslaufende Instrumente gedient haben, die nur unwesentlich weniger hart, gleich hart oder härter als Sand- bzw. Ziegelstein sind. In Frage kommen professionelle Werkzeuge oder grob zugerichtete Fragmente aus Metall (Eisen, Stahl, Bronze, Messing), aus Stein (Flint, Schiefer, Plattenkalk), aus Knochen, aus Horn, aus hartgebranntem Ton, aus Glas(-scherben) oder – eher unwahrscheinlich – aus Hartholz (Hainbuche, Ahorn). Die große Einförmigkeit der S legt nahe, dass das verwendete Werkzeug überall das gleiche war, also allgemein verfügbar, weitverbreitet und über lange Zeit formtreu gewesen ist. Ich halte es für möglich, dass es sich um den Schlagstahl des Feuerzeuges gehandelt hat. Er hat die nötige Härte und gehörte bis ins 19. Jh. wohl zu fast jedermanns Fahrhabe. Mittelalterliche Feuerstähle hatten mitunter die Form einer Brezel (Durchmesser ca. 6 – 8 cm), deren Schenkel nicht gekreuzt waren sondern runde Ösen bildeten. Durch die Ösen waren Zeige- und Ringfinger der geballten Schlagfaust gesteckt, der gerade oder leicht konvexe Rand wurde gegen den Feuerstein (Flint) geschlagen. Ein so geformter Feuerstahl wäre bestens zum Ausdrehen der „Näpfchen“, bei anderer Handhabung auch zum Ausschaben der Rillen geeignet. Den mit einem Durchmesser von 2 – 3 cm kleineren Näpfchen, die in Norddeutschland auf Backstein zu finden sind, könnten Feuerstähle entsprechen, wie sie z.B. im Mecklenburgischen Volkskundemuseum Schwerin-Mueß (im Objekt „Spritzenhaus“) oder in der Sammlung Haenlein/Fehre zu finden sind: deren konvexes Griffende ist häufig als Halbkreis von ca. 2 – 3 cm ausgeformt. (Abbildungen von Feuerstählen am Ende dieses Textes.) Die ideale Ausformung der N in Form einer Kalotte (Kugelhaube) wie z.B. in Effeltrich, legt eine gleichmäßig ausgeführte Drehbewegung nahe, wie man sie etwa mit einem Fidelbohrer, einem Rennbohrer oder einem Drillbohrer zustande brächte. Für S sind mechan. Drehhilfen wie z.B. Kurbel-Schleifräder eher unwahrscheinlich. N könten sich – ohne mechanisches Hilsmittel – von Hand durch axiales oder „taumelndes“ Drehen etwa des oben beschriebenen Feuerstahls, eines Kettenglieds, Eisenbechers oder -ringes formen lassen. Die von K.-F. Haas entwickelte Hypothese von Eisenlöffeln als Schabewerkzeugen erachte ich als nicht haltbar: 1.) Schmiedeeisen – und sma. Eisenlöffel müssten daraus bestanden haben – ist zum Schaben auf Sandstein ungeeignet, da zu weich. 2.) schmiedeeiserne Esslöffel wären durch die kraftaufwendige Schabearbeit bald unbrauchbar geworden. 3.) Eisenlöffel dürften bis in die Neuzeit von der Masse der Bevölkerung eher selten benutzt worden sein, allgemein verbreitet waren hölzerne Löffel. 4.) Schaberillen legen von der Form her einen nach unten gerichteten Krafteinsatz nahe; sinnvoller wäre beim Löffelschaben gewesen, aufwärts zu schaben, um den Steinstaub in der Laffe zu sammeln.
zu 4.) Hierher gehrt die Frage, ob 4.1 das erschabte Material (feinster Sand, Steinstaub, „Heilsand“, „materia medica“), 4.2 das ausgeschabte Mal (die Schabespur), 4.3 das Schärfen eines Werkzeugs/einer Waffe oder 4.4 die Entzündung eines Feuers Zweck der Anstrengung war.
4.1.1 Der von Sakralbauten erschliffene Staub könnte, da er die Kraft kirchlicher Weihe in sich trug, als Medizin (für Mensch und Tier) gedient haben (Sakramentenzauber). Dagegen
sprechen die vielen S an profanen Bauten, etwa an dem alten Brauhaus in Creußen, an
Säulen von Freiluft-Tanzböden (Limmersdorf, Langenstadt) oder an Tor- oder Zaunpfeilern
(Thurnau, Buchau, Neustädtlein).
Die Annahme von Hellmich (s. Lit.), heilkräftiger Steinstaub könnte von den Häusern
„Wissender“ – etwa von Schmieden, Henkern oder Schäfern – erschliffen worden sein, da
von der magischen Kraft der Bewohner auch auf deren Behausung übergegangen sei,
könnte dem Volksglauben der Zeit entsprochen haben. Sie erklärt aber nicht Funde an
anderen Stellen, etwa an vielen Bürgerhäusern (z.B. Seßlach, Bayreuth, Thurnau), an einer
Gartenmauer (Thurnau), an steinernen Zaunpfosten (Neustädtlein), an einem Amtmannshaus
(Burgkunstadt) usf.
Wenn es nur darauf angekommen wäre, eine bestimmte Menge Steinstaub zu gewinnen,
hätte es – zumal an Quaderkanten – effektivere Schabemöglichkeiten als an der Oberfläche
eines Steinquaders gegeben. Denkbar ist, dass Staubgewinnung und die dabei gesetzte Marke zusammengehörige Teile ein und der gleichen rituellen Handlung waren. Möglicherweise überwiegen senkrechte Rillen, weil sich der Staub aus senkrecht gesetzten Rillen besser auffangen ließ.
4.1.2 Der Staub von prominenten Bauten der Heimat könnte von Pilgern oder Soldaten in einem Beutelchen in fremde Länder mitgenommen worden sein, damit er seinen Träger durch Sympathiezauber wieder nach Hause „zöge“.
4.1.3 Könnte der Staub im gemeinen Brauchtum eine Rolle beim Beerdigungs-Zeremoniell gespielt haben, etwa dass man ihn dem Toten ins Grab mitgab oder nachwarf? Oder streute man den Sand in fruchtbarkeitssiftender Absicht einem frischgetrauten Paar in den Weg oder warf ihn über dessen Köpfe? (Diese Vermutung fand ich auch bei Bauriedel). Oder war es ein für Neugeborene und/oder Wöchnerinnen übliches Apotropäikum ?
4.1.4 Es wäre zu klären, ob und gegf. seit wann an Schulen (Stadt-, Dorf-, Kloster-) Streusand zum „Löschen“ der Tintenschrift benutzt wurde. Nach meiner Vermutung dürfte Streusand erst in Gebrauch gekommen sein, als Papier als Beschreibestoff in größerem Umfang in Gebrauch kam, also etwa vom Ende des MA. an. Es wäre in Betracht zu ziehen, ob S dadurch entstanden sein könnten, dass sich Schüler – evtl. strafweise – ihren Streusand erschabten. Diese Hypothese wäre nur bei einer möglichst geringen Korngröße des betroffenen Sandsteins zu halten. Weitere Voraussetzung wäre das Vorhandensein einer Schule am gleichen Ort. Die Näpfchen unbd Rillen in Backsteinen, wie man sie in Norddeutschland findet, können dem genannten Zweck nicht gedient haben: roter Loschsand hätte das Papier verdorben.
4.1.5 Massenhaft auf begrenzter Fläche auftretende S könnten den Schluss nahelegen, dass die Verursacher professionell vorgingen, das Steinmehl vielleicht an Heiler oder Apotheker verkauften.
4.2 S könnten 4.2.1) abergläubischen Zwecken gedient, 4.2.2) reinen Zeichencharakter gehabt haben, 4.2.3) Teil eines Ritus gewesen sein oder 4.2.4) durch spielerisches Treiben entstanden sein.
4.2.1.1 Die Rillen (S) könnten zu Zaubereien analog dem Vernageln oder Verspunden gedient haben. Eine Vermutung könnte dahin gehen, dass sie mit einem Gemengsel mit oder über dem Substrat der magischen Handlung (bei Krankheit etwa Urin, Sputum oder Haaren des Patienten) verschlossen – zugeschmiert – wurden. Danach müssten die S ursprünglich sämtlich „zugeschmiert“ gewesen und erst nachträglich ausgewittert sein. S. Seligman berichtet, dass Näpfchen an Kirchen ausgeschliffen wurden, um ein Fieber „hineinzupusten“. Demnach wären S im Sinne iatromagischer Praktiken der Volksmedizin entstanden. Diese wurden zu bestimmten Zeiten (z.B. Mitternacht, Vollmond) und an bestimmten Orten (Kirchen, Torwegen, Friedhofsmauern) ausgeführt. A. Kögler geht davon aus, dass die Rillen und Näpfchen Zeugnis eines apotropäischen Brauchs sind; sie wären somit aus der Absicht entstanden, böse Geister und deren üble Macht von den Plätzen fernzuhalten, die man mit den Schürfmalen als unangreifbar gezeichnet hatte.
4.2.1.2 Die ellipsenförmigen Rillen, der Vulva der Frau ähnlich wie – vulgo – auch die runden Schleiflöcher, könnten stilisierte Genitalzeichen gewesen sein, die von Frauen im Sinne eines Fruchtbarkeitszaubers (bzw. dessen Gegenteils) oder von Männern im Sinne eines Potenzzaubers ausgeschliffen wurden. Da sich das Zeichen als Ritzung hätte einfacher herstellen lassen, mag der erschliffene Sand und/oder die hin- und hergehende – an das Kopulationsgeschäft gemahnende – Bewegung des Schabens eine verstärkende Rolle gespielt haben. Unwahrscheinlich dabei, dass die Kirche aufgrund ihrer notorisch sexualfeindlichen Einstellung nicht vehement und auch heute noch belegbar dagegen Stellung bezogen hätte.
4.2.2.1 Vagierende Bettler und Gauner oder wandernde Handwerksgesellen könnten einander durch S über örtliche Gegebenheiten verständigt haben. Dagegen spricht der – verglichen mit Gaunerzinken – offenbar geringe Informationsgehalt der S, die relativ zeitaufwendige Herstellungsweise sowie der Umstand, dass sie auch innerhalb der wohlverwahrten Tore eines Schlosses (Thurnau), eines Klosters (Banz) oder einer Burg (Plassenburg/Kulmbach, Veste Rosenberg/Kronach, Burg Cadolzburg) zu finden sind.
4.2.2.2 Leute, die während der Verbüßung einer Kirchenstrafe die Kirche nicht betreten durften, könnten die S als Zeichen ihrer Anwesenheit am Kirchenäußeren während des Gottesdienstes gemacht oder die abgebüßte Zeit durch Marken für bestimmte Zeitabschnitte notiert haben. Dagegen spricht der Fund von S an Steinquadern höchst profaner Bauzeugnisse, wie etwa an den Steinsäulen einer ehemaligen Tanzbrücke (Langenstadt b. Kulmbach), am Brauhaus in Creußen, an einem Amtmannshaus (Burgkunstadt) oder an Wohnhäusern (Thurnau, Bayreuth).
4.2.2.3 Pilger, die unversehrt von einer Reise, etwa zu den „Schwellen der hl. Apostel“ (Petrus und Paulus; in Rom) heimgekehrt waren, haben zum Dank Zeichen in Form der S gesetzt. In diesem Fall könnte man weiter spekulieren, dass das Zeichen „Schiff“ für den Fischer Petrus stünde. (Vgl. hierzu den von G. Kiesow erwähnten Brauch der Jakobspilger, ihr Pilgerzeichen – die Muschel – „als Dank für die glückliche Heimkehr als Steinskulptur an ihren Kirchen“ anzubringen.) Allerdings ist eine Vielzahl der „Schiffchen“ nach dem Ende der großen Zeit der Pilgerfahrten, i.e. nach der Reformation, entstanden. Es wäre zu erörtern, zu welchen Objekten oder Symbolen für den Betrachter der betroffenen Zeit sich angesichts der S ein Bezug hergestellt hätte. Für S vom Typ 2 könnten dies – außer dem genannten Genitale – etwa ein Schiffsrumpf, ein Brotwecken, eine Garnspindel, ein Fisch oder ein Weberschiffchen gewesen sein.
4.2.3 Es wird die Möglichkeit erörtert, dass S als bestätigender Rechtsakt bei Gerichtssitzungen, bei Eidesleistung oder bei der der Eheschließung gesetzt worden sein könnten. (Zwar wurde nach ma. Brauch ein Teil der Heiratszeremonie „in facie ecclesiae“ vollzogen, dafür war jedoch – sofern vorhanden – das Tor an der Nordseite [„Brauttür“] der übliche Ort. Eine Häufung in diesem Sinn ist m.E. nicht zu beobachten, zudem fanden kirchl. Heiratszeremonien in der Zeit nach 1500, als nach meinem Dafürhalten die S im wesentlichen entstanden, vor dem Altar statt.) Wenn S vielfach an Steinsetzungen zu finden sind, die aller Wahrscheinlichkeit nach keinen Bezug zu rechtsrituellen Bräuchen haben, so könnte dies zwar als „Absinken“ eines Rechtsaktes in folkloristisches Treiben gedeutet werden; unwahrscheinlich ist jedoch, dass S als Bestandteil eines Rechtsaktes keinerlei Zeugnisse im Schrifttum und in Bildzeugnissen hinterlassen haben sollten. Über rituelles Waffenwetzen s. 4.3
4.2.4 Der Autor eines Berichts über den ma. Herrenhof in Mußbach/Weinstraße (s. dort) hält die S für „Zeichen dafür, dass hier einmal öffentlich Gericht gehalten wurde“. (Eine Begründung dieser Ansicht wurde mir auf Anfrage hin nicht gegeben.)
4.2.5 Für Kinderstreiche – selbst wenn sie Wettbewerbscharakter gehabt haben sollten – ist die Herstellung von S, wie schon erwähnt, zu aufwendig, an manchen Stellen wegen deren ständiger Überwachung (Burgtore), wegen der teilweise auffällig exakten Ausführung und wegen ihrer hohen Positionierung am Außenbau unwahrscheinlich. H. Bauriedel schreibt: "So berichteten die ältesten Bürger, dass sie als Kinder bereits vorhandene Rillen noch tiefer ausgekratzt und neue Rillen in den Sandstein eingekratzt hatten. Und dies geschah meistens im Wettstreit ....“ – wäre also bloße Nachahmung gewesen und hätte mit der ursprünglichen Zwecksetzung nichts zu tun. – Jean Penders hält puren Vandalismus aus Langeweile („vandalisme uit verveling“) für die wahrscheinlichste Ursache.
4.3.1 Schärfen von Werkzeug. Es scheint unwahrscheinlich, dass Handwerker ihr Werkzeug zum Schärfen irgendwohin getragen haben sollten, bestand doch kein Mangel an geeigneten Wetzsteinen, die man auch in der Werkstatt oder am jeweiligen Arbeitsort benutzen konnte (etwa solche aus kristallinem Schiefer oder hartem, feinkörnigem Sandstein). Und Steinwerker, die am Steinbau selbst arbeiteten, würden die in mühsamer Eigenarbeit behauenen Quader nicht durch Wetzspuren verunziert haben. Auch von anderen Bauhandwerkern – Schmieden, Glasern, Zimmerleuten, Mörtelmachern usf. – dürfte der Baumeister solches nicht geduldet haben. (Das einzige Beispiel, das nach meinem Kenntnisstand für das Schärfen von Werkzeug – in diesem Fall der Schneiden [Barten] von Beilen – spricht, ist die 1594/96 erbaute „Bartenwetzerbrücke“ über die Fulda in Melsungen. Sie zeigt in der Oberfläche der steinernen Brüstung flache Mulden, die durchaus durch das Schärfen von Axtschneiden entstanden sein können. (Q: G.Kiesow, R.Wilms, eigener Befund.)
4.3.2 Schärfen von Waffen. Die Gestalt der S legt nahe, dass sie nicht durch wirkliches Schärfen, allenfalls durch rituelles Wetzen der Spitzen (etwa v. Dolchen, Degen oder Hellebarden) verursacht worden sein könnten. Ein derartiges Ritual vor der Eröffnung eines Kriegszugs wäre aber wohl öffentlich begangen worden und hätte seinen Niederschlag in zeitgenössischen Wort- und Bildberichten gefunden.
4.3.3 Rituelles Stumpfmachen von Waffen, etwa vor Betreten eines heiligen Ortes (einer Kirche) oder nach Beendigung eines Feldzugs, als Entsühnung des blutbefleckten Stahls. Auch hierfür müssten sich schriftl. oder bildl. Belege finden. Zudem wäre ein rituelles Stumpfmachen unter Schonung der Schärfe/Spitze vollzogen worden und hätte keine so tiefen Male hinterlassen.
4.4 Für die von manchen Autoren (z.B. Dr. W. Funk) genannte Verursachung durch Anreiben
mittels einer kurbel-getriebenen Holzscheibe oder eines Drillbohrers (Feuerbohrers) zur
Entzündung eines liturgischen Feuers (Osterfeuer) fehlen bislang Belege in historischen
Quellen. Zudem scheint der Erfolg einer derartigen Technik des Feuermachens höchst
zweifelhaft (K.-F. Haas). Auch sprechen S-Funde an Profanbauten eher gegen diese Theorie.
(Diese Funde wären allenfalls mit dem paganen Brauch des Notfeuers zu vereinbaren. Dessen
apotropäische Wirkung war jedoch nur gegeben, wenn es durch die archaische Form der
Reibung von Holz auf Holz, nicht durch das Aneinanderschlagen von Stahl und Stein
entstanden war.)
Georg Steffel beschreibt eigene Versuche zum Feuerschlagen aus Sandstein mittels eines Stahls
(Stemmeisen) und mittels eines Feuerstahls. In beiden Fällen ist es ihm gelungen, zündfähige
Funken zu erzeugen, damit Zunder zum Glimmen zu bringen und leicht entflammbares Material
(Hobelspäne) zu entflammen. Weswegen jedoch zu Zeiten, da jedermann ein taugliches Feuerzeug
mit sich führte und damit leichter Funken schlagen konnte als aus einer Sandsteinmauer, die
umständlichere Methode in so großem Ausmaß gewählt worden sein soll, geht aus Steffels
Ausführungen nicht hervor. Auch ist nicht klar, weswegen beim Feuerschlagen aus der Wand stets „in die gleiche Kerbe“ gehauen worden sein sollte - glühende Stahlteilchen ließen sich doch an jeder beliebigen Stelle des Mauerwerks vom Feuerstahl abreißen. Weiters erschließt sich nicht, weswegen das – wohl ausschließlich nächtliche – Feuerschlagen überwiegend an der Südseite von Kirchen gechieht.
Der Versuch G. Steffels bestätigt die Mitteilung von Franz Bürk (Brief v. 21.01.2005): „... habe ich gleich Versuche unternommen, mit Markasit und danach auch einem Feuerstahl an Sandstein runtergeschlagen. Beide Male gab es sehr gute Funken. ... Eine Kundin hat bei mir vor zwei Jahren einen Feuerstahl und nitrierten Zunder bestellt, um anlässlich eines dortigen Kirchenfestes an der Wand des Gotteshauses Funken zu schlagen, es seien da im Gemäuer Schlagspuren vorhanden.“
Für den tropfenförmigen Stahl lks. oben auf der oberen Tafel ist eine Größe von 90 x 26 x 6 mm angegeben. Der Stahl re. unten auf der unteren Tafel misst 112 x 49 x 5 mm . (Aus „Brandstifter! Eine kleine Kulturgeschichte des Feuerzeugs“, Niederrhein. Volkskundemuseum Kevelaer.)
Anmerkungen:
Auffällig ist das bereits angesprochene und für mich bis heute festzustellende Fehlen von Hinweisen in Wort und Bild, die auf S oder auf deren Verursacher Bezug nehmen. War die Sache zu alltäglich und banal, um sich darüber aufzuhalten? War der Volksbrauch so tiefverwurzelt, dass die Kirche ihn mit stillschweigender Duldung hinnahm? Lösten die Ausschabungen Schamgefühle aus und wurden deswegen tabuisiert und mit Schweigen übergangen? Verursachten sie Angst vor magischen oder kriminellen Rückwirkungen und wurden daher totgeschwiegen?
Es wäre zu klären, ob die – wenigstens drei – unterschiedlichen Typen von Schleifspuren zum gleichen Zeitrahmen gehören, ob sie in der gleichen Absicht gemacht wurden, ob jedem Typ bzw. einigen gemeinsam eine eigene Zielsetzung zugrundelag, und ob ein Teil von ihnen aus spielerischem Nachahmungsdrang entstanden sind.
Denkbar, dass jüngere Schleifspuren aus spielerischem Nachahmungstrieb entstanden sind, ohne dass die Verursacher den ursprünglichen Zweck ahnten. „Es ist die im Leben aller Volksüberlieferungen immer wieder begegnende Erscheinung, dass dem Gesetz der Trägheit und Beharrung folgend Bräuche auch dann noch geübt werden, wenn ihre Voraussetzung und auch ihr Sinn und Zweck verloren gegangen ist.“ (Gustav Jungbauer, „Deutsche Volksmedizin“, S. 105)
Es ist die Möglichkeit zu beachten, dass S-tragende Steine in Einzelfällen als Spolien an anderer Stelle vermauert wurden. R. Wilms unterstellt fallweise Absicht des Architekten. Funde an der Hallstädter Kirche, an der Außenbefestigung der Plassenburg, an einer Mauer in Nemmersdorf und an einem bodennahen Quader in Thurnau scheinen mir Fälle von sekundärer Vermauerung zu sein. Viele Schaberillen dürften durch natürliches Auswittern, durch Schönheitsreparaturen oder nach kriegsbedingten Beschädigungen bei Ausbesserungsarbeiten verlorengegangen sein (letzteres für die Crailsheimer Johannes-Kirche belegt). Andere wurden anscheinend nachträglich – aus Gründen der Ästhetik? – ausgegipst oder zugeschmiert (so an vielen Stellen in Bayreuth und Küps, an manchen in Kulmbach, Thurnau und Seßlach). Eher eine Ausnahme dürfte der Befund an der Jakobskirche in Marktschorgast sein, bei dem ein Feld von S absichtlich vom später aufgezogenen Putz, nicht jedoch von der Tünche freigehalten wurde. Allgemein ist anzunehmen, dass der Bestand an Schabemalen in älterer Zeit wesentlich größer gewesen ist. Werden in unserer Zeit solcherart „beschädigte“ Steine bei Renovierungsarbeiten durch vorgeblendete Sandsteinplatten geschönt (z.B. an der Pfarrkirche in Nankendorf), so hat man früher Schabemale ausgegipst oder unter Putz gelegt (s. Geutenreuth). Viele Fundstellen gingen durch Abriss- oder Umbaumaßnahmen, durch Verschalung oder Ummantelung verloren, ein großer Teil versank im Schutt der Bombentrümmer. Der Restbestand sollte durch denkmalpflegerische Aktivität erhalten oder wenigstens in Bild und Wort dokumentiert werden.
Zu erörtern wäre, ob gemäß 4.2.1.1 zugeschmierte Rillen der Regelfall gewesen sind, und die „Füllungen“ erst später auswitterten. An manchen Orten (s. Kirchen in Thurnau und Roth) sind die S quer zur Längsrichtung mehr oder weniger grob gerieft, was im Widerspruch zu einer Schleifbewegung entlang der Längsachse steht. Möglicherweise wurden die Querrillen angebracht, um einer Ausfüllung besseren Halt zu geben oder sind entstanden, als man die Rillen in denkmalschützerischer Absicht wieder von einer Ausfüllung befreite.
Bislang konnten wir nur in drei Fällen (Quedlinburg, Wiesenthau, Wildenroth) mittelalterliche S an natürlich liegendem Sandstein-Fels finden. H. Bauriedel berichtet von Rillen „auf Felsblöcken in Wiesen und Äckern und im alpinen Hochgebirge“ und meint, dass „Rillensteine auf freiem Felde die Fruchtbarkeit der Felder fördern sollten.“ R. Wilms belegt S auf Felsentischen bei Eppenbrunn und Glashütte (Pfälzer Heimat, Jg. 29, H. 4, S. 150, 151). Dr. A. Mazel registrierte S auf Sandsteinfelsbrocken im Norden von Northumbria (GB). (Zu Letzterem s. bei www.wissenschaft.de/wissen/news/230428.html unter dem Datum vom 10.10.2003: „Mysteriöse Steinritzungen geben britischen Archäologen Rätsel auf“, mit Bildern.) Meiner Meinung nach sind die von vielen Forschern und interessierten Laien aufgelisteten Funde von Furchen, Rillen, Mulden und Näpfchen auf natürlich liegendem Fels, auf Findlingen und an Felshöhlenwänden in prähistorische Zeit zu datieren; über ihren entwicklungsgeschichtlichen Zusammenhang mit den hier beschriebenen mittelalterlichen und neuzeitlichen Schabemalen kann nur spekuliert werden. (Hierzu Näheres bei Walter Eitelmann.)
Häufig ist zu beobachten, dass die S am oberen Ende schmal beginnen und in der unteren Hälfte breit eingetieft sind. Diese Ausformung entspricht der Krafteinwirkung bzw. dem Bewegungsablauf bei der Handhabung eines geeigneten Werkzeugs (etwa eines Feuerstahls) und senkrechtem, von oben nach unten gerichtetem Einsatz: erst wird die Werkzeugspitze sachte auf die schon vorgeformte Spur aufgesetzt, dann mit größerem Kraftaufwand in den Stein geschürft. Aussagekräftiges Beispiel: Plassenburg Kulmbach, Mauer im „Kasernenhof“.
Nach meinen Funden und nach den in der Literatur geschilderten Beobachtungen sind Schabemale nur auf Sandstein- und Backsteinmauerwerk zu finden, wobei es noch Unterschiede zwischen verschiedenen Sandsteinarten zu geben scheint. Hat dies mit einem spezifischen Beschaffenheit von Stein- oder Backsteinmehl zu tun (Farbe, Körnung), wollte man sich die Staubgewinnung möglichst leicht machen bzw. sein Werkzeug schonen (schabte also an möglichst weichem Sandstein), traute man anderen Steinmehlen (etwa von Kalkstein, Granit) eine magische Wirksamkeit nicht zu, oder ist es Ausdruck regionaler Brauchtumseigenarten.
Aufgrund von Beobachtungen während einer Rundfahrt durch den Odenwald glaube ich feststellen zu können, dass im Bereich des härteren Roten Sandsteins keine S und nur wenige N zu finden sind. Besuchte Orte waren u.a.: Schneeberg, Amorbach (mit Gotthard und Wildenburg), Michelstadt (mit Steinbach und Fürstenberg), Jagsthausen, Heidelberg, Neckarsteinach, Neckargemünd, Dilsberg, Kloster Schöntal. Auch auf dem roten Sandstein, der westl. von Stuttgart verbaut wurde (z.B. in Calw oder Hirsau), konnte ich keine Schabespuren finden. In der Eifel, wo vornehmlich heimisches Vulkangestein verbaut wurde, habe ich nur wenige S, R und N gefunden, und diese auf Sandstein, wie er hier mancherorts ansteht. (Vgl. hierzu Funde in Alf, Bengel [Kloster Springiersbach], Kyllburg und Trier.) Ebenso ergaben sich für das Gebiet der Frankenalb mit den dort anstehenden Kalksteinarten bisher nur spärliche (Nankendorf, Hollfeld, Waischenfeld) bzw. negative Befunde. Wo Ausschürfungen angetroffen wurden, fanden sie sich stets in Wandgliederungen, Laibungen oder Gewänden aus Sandstein, der von anderswoher stammte. Noch weniger Funde brachte bisher die Suche im Fichtelgebirge und im Bayerischen Wald, wo Hartgestein (Granite, Basalte, Gneis usf.) ansteht. Auch in Jena – gelegen auf und umgeben von Kalkgestein, die historischen Gebäude folgerichtig aus Kalkstein erbaut – konnte ich keine S finden. Das gleiche gilt für Paderborn und Münster sowie für Bauten im Bereich der Schwäbischen Alb (z.B. Klöster Lorch, Murrhardt, Adelberg, Bebenhausen) und für niederbayer. Donaustädte (Passau, Deggendorf, Straubing, Landshut, Regensburg).
Schleifrillen und Näpfchen sind an vielen Fundstellen vergesellschaftet; häufig liegen dabei N über S, seltener umgekehrt. Während S zumeist in Gruppen, parallel zueinander angeordnet sind, fast ausnahmslos ohne eine Quaderfuge zu überschneiden, finden sich N in regelloser Streuung. Auf Sandstein überwiegen der Anzahl nach die S, auf Backstein die N.
Schleifmale finden sich fast ausschließlich am Außenbau. Aus eigener Anschauung sind mir als Ausnahmen nur der Dom zu Mainz und Windischenhaig 22 bekannt.
Aus der Fülle verschiedener Fundstellen an sakralen und profanen Gebäuden, Mauern und Steinsetzungen schließt A. Leistner: „Man gewinnt den Eindruck, dass der Brauch, solche Schliffe anzubringen, den Weg über die Kirchenmauer, das Grabmal, Steinkreuz und den Bildstock nehmend, auch auf profane Bauten übertragen wurde“ – also quasi „abgesunken“ ist.
Mir scheint nicht unwahrscheinlich, dass die Heilkraft, die man ursprünglich nur dem Staub von sakralen Bauten (Kirchen, Kapellen) und religiösen Steinsetzungen (religiöse Bildstöcke, Feldkreuze usf.) nachgesagt hatte, im Laufe der fortschreitenden Neuzeit, parallel der zunehmenden Verweltlichung und „Aufklärung“, auch dem Steinstaub von Profanbauten (Rathäusern, Brauhäusern, Gewerbe- und Wohnbauten) und profanen Steinsetzungen (Grenzmauern, Torpfeilern, Tanzbodensäulen usf.) zutraute. Von Interesse wäre, ab welcher Zeit S, R und N an derartigen profanen Erzeugnissen aus Hau- und Ziegelstein auftreten; das Probleim dabei – wie auch bei S, R und N an Sakralbauten - ist, dass das jeweilige Entstehungsjahr kein Hinweis auf den Zeitpunkt des Schleifens sein muss. Sowohl an natürlich anstehenden Sandsteinfelsen (s. Bilder Fels1 u. Fels2, Eichberg) wie an behauenen Quadern aus Sandstein (s. Bilder Veßra 1 – 4, Kloster Veßra) finden sich auffällig gleichförmige und regelmäßige näpfchenartige Eintiefungen, die jedoch von natürlicher Auswitterung und nicht von irgendeiner menschlichen Tätigkeit herrühren. Manche Funde von N (Bilder Neustädtlein1a, Thurnau20) sind von fraglicher Herkunft.
zu 1 Wenn S weit überwiegend an Bauten der Zeit von 1500 bis 1800 gefunden werden, so besagt dies nicht unbedingt, dass der Brauch erst in nachmittelalterlicher Zeit aufgekommen ist. Baudenkmäler aus früherer Zeit sind ganz einfach seltener, einmal weil Steinhäuser im MA. – von ausgesprochenen Steinbaugegenden abgesehen – eher die Ausnahme bildeten, und weil viele davon aus- oder umgebaut, abgetragen, verfallen oder zerstört worden sind. Interessant ist in diesem Zusammenhang der Überblick, den „Denkmäler in Bayern“ beispielsweise für den Bestand an Baudenkmälern in Kronach gibt (Kronach ist erstmals erwähnt 1003 als urbs Crana. Gezählt sind Bauten aus d. 12. - 18.Jh., wobei jeweils das älteste für ein Bauwerk angegebene Entstehungsdatum gewertet wurde): 12.Jh. - 0, 13.Jh. - 3, 14.Jh. - 4, 15.Jh. - 14, 16.Jh. - 18, 17.Jh. - 58. 18.Jh.- 74.
zu 1 Zur Datierung der S ein bei J. Jünemann (1) gefundenes Kuriosum: „Auch das Grabmal des Professors Dr. Christian Gottlob Heyne auf dem St.-Bartholomäus-Friedhof beim Weendertor in Göttingen zeigt auf der 1812 eingemeißelten Inschrift 13 Wetzrillen und ein Näpfchen auf dem Sockel. Auf der Rückseite sind 10 kräftige Wetzrillen zu sehen.“ Aufgrund ausgewiesener Lichtbilder des Grabmals können diese Rillen erst zwischen 1940 und 1955 entstanden sein. (!) J. deutet dies als Relikt des inzwischen in Vergessenheit geratenen Brauchs des Steinstaub-Medizin-Schabens. Bei einem Besuch in Göttingen haben wir am 26.12.2006 auch den St. Bartholomäus Friedhof besucht, den Friedhof der Gemeinden St. Johannis und St. Jacobi (1747-1881). Die meisten der Grabsteine, darunter die von Georg Christoph Lichtenberg und Gottfried August Bürger, sind aus Sandstein gefertigt, zum Teil verwittert und/oder vandalisiert. Außer an dem Grabmal des Heyne waren an keinem der ca. 150 Grabsteine Rillen oder Näpfchen zu finden. Einige wenige Grabmale – so auch das des Chr. G. Heyne – sind derzeit zur Reparatur eingehaust. Es erscheint mir von Interesse, Biographie und Bibliographie des Professors auf volks- und brauchtumskundliche Bezüge zu durchforsten.
zu 1 Im 5. Band des „Handbuch zur deutschen Rechtsgeschichte“ (HRG, S 1337-1339) steht unter dem Lemma „Wetzen, Wetzrillen“ als entscheidender Satz eines längeren Textes: „Alter und Bedeutung der Wr. sind nicht annähernd bestimmbar. Das gilt ebenso für die kreisförmigen Vertiefungen („Näpfchen“), mit denen Wr. häufig kombiniert auftreten. – Sicher ist nur, dass es sich um bewusst eingebrachte Vertiefungen handelt. In einigen Fällen werden sie schon mit dem Stein, der vielleicht eine besondere kultische Verehrung genoß, in das Bauwerk eingefügt worden sein.“
zu 1 Bemerkenswert scheint mir, dass mit den Schleifmalen häufig Fassadengliederungen an prominenter Position und von herausragender Qualität verunziert wurden, etwa Portalnischen wie in Thurnau oder Seßlach. Da man unseren Vorfahren – zumal als Hauseigentümern oder Besitzern steinerner Bauteile (wie Torpfeilern, Gartenmauern, Freitreppen) – den gleichen Besitzerstolz, Schönheits- und Ordnungssinn zutrauen darf wie uns Heutigen, ist es unwahrscheinlich, dass sie selbst geschliffen oder das Schleifen geduldet haben sollten. (Allenfalls in äußerstem Notfall, wenn denn einem Familienmitglied mit Staub vom eigenen Heim Heilung oder Schutz in der Fremde verschafft werden sollte – etwa für einen Sohn, der zum Militär eingezogen und ins Feld geschickt wurde. Für einen solchen Zweck konnte der Gewinnungsort des Staubes nicht prominent genug sein; in diesem Sinne hätte sich die Laibung bzw. das Gewände des Hausportals angeboten. Man müsste der Frage nachgehen, ob und wann in Ortschaften, wo S an Portalen von Bürgerhäusern vermehrt auftreten, Truppen angeworben worden sind.) – Möglicherweise wurde Hausbesitzern zu Spott oder Schaden „gewetzt“, „geschabt“, sei es heimlich, durch neidische Nachbarn oder unverhohlen, etwa durch einlagerndes feindseliges Kriegsvolk. (In diesem Zusammenhang könnte es interessant sein, nach Einquartierungen fremden Miltärs in Orten zu forschen, in denen sich Schabemale gehäuft finden. Größere Steinbauten könnten von den Truppen als Lagerraum oder Stallung benutzt worden sein; höhere Chargen hätten wohl Häuser wohlhabender Bürger oder Amtshäuser requiriert. Vor deren Portalen oder Zufahrtstoren dürften Wachposten gestanden haben, die sich möglicherweise durch „Schaben“ die Zeit vertrieben oder irgendwelche Aurüstungsgegenstände blank gerieben haben.)
zu 1 Himmelstierna berichtet von Schabemalen (N) in Teterow, die ausweislich eines Berichtes des Heimatforschers Pastor Krüger nach 1881 entstanden sein müssen.
zu 2 Das mhd. Substantiv schabernac, schavernac bzw. das Verb schavernacken für neckender Streich, bzw. jemanden einen Streich spielen – dessen Herkunft nicht geklärt ist –, könnte die „Neckerei“ (mhd. necken = beunruhigen, reizen, plagen) umschreiben, durch die man einen mit solchem Schaben reizte.
zu 3 Brandes zitiert (S.25) aus dem „Großen Universallexikon aller Wissenschaften und Künste“ (Halle, 1735): „Feuerstahl, ist ein wohlgestalltes Eisen, so ein nöthiges Hauptstück eines wohlbestallten Feuerzeugs, und wird nach unterschiedener Form angetroffen; bald bestehet dieser Stahl aus einem viereckigen geraden Stücke, bald aus einer flachen und mit einem Griffe versehenen, bald aus einem oval und dergleichen mehr. ...“
Im HDA 2, Sp. 728 nach der Aufzählung mehrerer magischer Praktiken mit dem Feuerstahl: „Man bediente sich seiner wahrscheinlich deshalb vielfach zu abergläubischen Handlungen, weil er früher in keinem Haushalt fehlen durfte und zugleich zur Hand war.“
zu 4.1.1 Im HDA (4, 1417) ist unter „Kirchenstaub“ zu lesen: „Auffällige Rillen und Scharten am Mauerwerk einiger Kirchen im Osnabrücker Land glaubt Sartori ebenfalls dadurch entstanden, dass man den abgekratzten Staub des Gemäuers zu Krankenheilungen oder sonstigen magischen Zwecken verwenden wollte.“
Aus dem Peda-Kunstführer Nr. 76/1993 über St. Jakobi in Perleberg (Berlin-Brandenburg), S. 16, verfasst von Renate de Haas: „Andere Steine im Sockel des Hohen Chores fallen mit tiefen Kratzspuren auf. Im Mittelalter wurde von diesen Steinen Wunderwirkung erwartet. Bei Krankheiten glaubten die Menschen an die heilende Kraft des herausgekratzten Sandes.“
Rudolf Mett schreibt im „Stadtführer Königsberg“ (Verlag J. Holl, Hofheim/Ufr., 1994, S. 8) über die Zwecksetzung von S: „Für Königsberg träfe vielleicht der mittelalterliche Aberglaube zu, dass das aus einer geweihten Stätte herausgekratzte Sandpulver gegen die Pest habe helfen können.“
Kurt A. Müller schreibt in „Kurmainzisch Land am Lahnberg“ zu Näpfchen und Schleif- oder Wetzrillen (an der Dorfkirche in Bauerbach bei Marburg/Lahn): „Aus Thüringen ist bekannt, dass hoffende Mütter mit Geldstücken Sand abschabten, dem sie gedeihliche Wirkung auf das werdende Leben zuschrieben“. (Zit. nach www.bauerbach.de/heimatbuch)
Thomas Kuehtreiber vom Institut für Realienkunde des Mittelalters (Krems, Österreich) weist auf das Vorkommen von „Schabrillen“ an Sakralbauten in Niederösterreich hin, und darauf, „dass diese nach mündlicher Überlieferung mit der Herstellung von fiebersenkenden Elixieren in Verbindung gebracht werden, d.h. das Gesteinsmehl von sakralen Gegenständen .... wurde mit einer Flüssigkeit vermischt und dem Kranken verabreicht. Es soll noch urkundliche Belege für diesen Brauch in Österreich geben.“ (Zit. nach http://www.handshake.de/user/odin/fragen.htm)
Horst Kirchner in „Die Menhire in Mitteleuropa und der Menhirgedanke“: „Auch in Frankreich ist der Brauch alt, und wenn heute der Gesteinsstaub, beigemischt den Getränken, meistens von Grabmälern und Heiligenstatuen stammt, ist es wahrscheinlich, dass man auch ihn auf den Megalithen gesammelt hat. ... der Rest eines Dolmens, der bis 1789 angebetet, abgekratzt und abgeleckt wurde durch unfruchtbare Frauen. Man hat den Stein geschabt, um ihn zu reinigen vom Staub, der die Eigenschaft hat, Ohrenschmerzen zu heilen.“ Q: Datenbank der Kulturgüter in der Region Trier auf dem Server des Freilichtmuseums Roscheider Hof, Konz. (mail to: kulturdatenbank@web.de)
Aus S. Seligman „Die magischen Heil- und Schutzmittel aus der unbelebten Natur“: S. 151 „Die Pilger von Loreto erhalten ein versiegeltes Kuvert mit etwas Staub von der Wand (Hervorhebg. durch d. Verf.) der S. Casa di Loreto. Etwas von diesem Staub wird in Wasser, Kaffee oder Fleischbrühe oder, in eine Oblate eingewickelt, als wirksames Mittel gegen alle Krankheiten, Dämonen und Hexen verschluckt.“ (Die Santa Casa - das Haus der Hl. Familie - war nach einer Legende des 15. Jh. durch Engel von Nazareth nach Dalmatien und von dort an die ital. Adriaküste gebracht und hier 1294 in einem Lorbeerhain [loretum] aufgestellt worden. Über der legendären S. Casa wurde 1468 die Wallfahrtskirche Santuario della Casa errichtet.) S. 214 „Auch Grabsteine sind sehr heilkräftig. Grabsteinpulver von einem Heiligengrabstein war nach Gregor von Tours ein unübertreffliches Heilmittel gegen alle Krankheiten. („Plus enim valet parumper de pulvere basiliae quam mille cum medicamentis infanix“ = sinngemäß: Ein wenig Kirchenstaub vermag mehr als alle Magier mit ihren unsinnigen Mitteln“.) S. 233 „In die ausgeriebenen Näpfchen der Marienkirche in Greifswald wurde das Fieber „hineingepustet“. Die Näpfchen an einer Kapelle im Kanton Wallis wurden immer tiefer ausgeschliffen, weil das ausgeriebene Ziegelmehl Kranken als Medizin gereicht wurde. ... Verwandt hiermit ist der Brauch, löcherartige Vertiefungen in Sühnekreuze zu bohren und das durch Ausschaben gewonnene Steinmehl zu Heilzwecken, wie zur Vertreibung des Fiebers, zum Schutz vor Pest usw., zu benutzen.“
Peter Assion schreibt im Bayer. Jb. f. Volkskunde, 1978, S.7 ff: „Hinzu (zum Heilschlaf am Heiligengrab oder in der Kirche; PS) kamen variantenreich all jene Verfahren, die durch Berührung oder Einverleibung überweltlich „aufgeladener“ Substanzen absolute Heilkraft dem Kranken direkt zuführen wollten: Das Kontaktieren von Reliquien der Heiligen (Gebeine, Blutreste, Kleider usw.), die äußerliche und innerliche Anwendung reliquiarer Ölausflüsse, Abschabsel von Sarkophagen (später auch von Gnadenbildern, Gnadenaltären, Kirchenmauern, Bildstöcken usw.) und sonstiger Dinge aus Grabumgebung und Sakralraum (Ampel-Öl, Kerzenwachs, Weihwasser usw.)“
Rud. Eberstadt (s. Lit.) zitiert „Vergleichende Volksmedizin“ (von Hovorka u. Kronfeld): „ ... wurde nach dem Tod des heiligen Camillus von Lellis (1550 bis 1614; 1746 kanonisiert, Schutzpatron der Kranken und Spitäler) aus den Steinen seiner Zelle Staub bereitet, der den Kranken stets Heilung brachte, wenn sie ihn im gläubigen Vertrauen auf die Fürbitte dieses Heiligen anwandten, und der heute noch in dem Kamillanerkloster zu Vaals, einem holländischen Städtchen dicht an der deutschen Grenze bei Aachen verkauft wird. Die Heilkraft dieses Staubes ist bereits im frühen Mittelalter bezeugt. Dafür ist bezeichnend die Äußerung des Gregor von Tours: Ein wenig Staub aus der Kirche des heiligen Martin nutzt mehr als alle Wahrsager mit ihren unsinnigen Hilfsmitteln. ...“
Im „Handbuch des Aberglaubens“ (Ulrike Müller-Kaspar [Hg.], Wien: Tossa Verlag, 1999) steht unter „Kirchenstaub“: „Der Staub aus dem Inneren der Kirchen, aber auch abgeschabter Staub vom Kirchenbau ist heilkräftig, wenn er auf Wunden gelegt und glückbringend, wenn er ins Haus gebracht wird.“
Marie Andree-Eysn erwähnt in Ihrem Artikel „Kirchenstaub heilt Wunden“ außer von dem wundertätigen Staub vom Dache der casa santa in San Loretto (bei Ancona) von einem entsprechenden Heilstaub, abgewetzt von der Zellenwand des hl. Camillus von Leilis in dem Kamillanerkloster von Vaals, einem holländ. Städtchen bei Aachen und von Steinstaub aus einer Wallfahrtskapelle in Knock, Grafschaft Mayo/Irland.
Aus dem Manuskript „Inseln, , Zypern, Teil 1 Südzypern“ von Lourdes Picareta, zur Sendung vom 23.10.2002 im Südwestfernsehen: „Die Südwestküste der Insel. Hier im Dorf Pano Arodes stehen neben der Kirche zwei antike Sarkophage. Dieser sei vom Heiligen der Liebe, Agapitos, dieser vom Heiligen des Hasses, Missitikos, sagen die Dorfbewohner. Sie sollen Wunder bewirken, Gutes wie Böses. ...“ Abgeschabtes Pulver vom Grab des Heiligen der Liebe, der Zielperson ins Getränk gemischt, erwirkt liebevolle Zuwendung. „Der Heilige des Hasses wird nicht so oft angerufen. Es gibt nur wenige abgekratzte Stellen. ... Willst Du, dass zwei Menschen sich streiten, nimmst du den Staub und machst ihm in das Getränk (sic!). ... Der eine Heilige bringt die Menschen zusammen. Der andere trennt sie.“
Bei Bächtold-Stäubli „Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens“ findet sich unter dem Lemma „Schalensteine“: „... An Orten, wo keine Schalensteine (erratische Blöcke oder gewachsener Fels mit schalenförmigen Ausschliffen. d. Verf.) in der Nähe bekannt sind, schleift man an den Mauern von Kirchen kleine Höhlungen aus; in den so ausgegrabenen Näpfchen an der Marienkirche in Greifswald fanden sich Spuren, dass Fett in sie gerieben wurde; das Fieber wurde in sie von Kranken »hineingepustet«. Die Näpfchen an einer Kapelle in Kanton Wallis werden immer tiefer hineingeschliffen, weil das herausgeriebene Ziegelmehl Kranken als Medizin gereicht wird.“ Die Fettspuren in den Näpfchen dürften m. E. daher rühren, dass das erschliffene Steinmehl sofort in Fett gebunden und eine Paste bilden sollte, anstatt vom Wind verweht zu werden. Ob die erwähnten, zumeist wohl prähistorischen, Schalensteine – die ja aus natürlichem Felsgestein oder aus erratischen Blöcken bestehen – mit unseren Näpfchen auf Hau- und Backsteinen in einer Traditionslinie stehen, ist nicht geklärt.
Karl Lukan vermerkt in „Das Waldviertelbuch“ (S. 38) zu „Näpfchenbohrungen“ auf einem roman. Steinkreuz: „Noch bis zum Ende des vergangenen Jahrhunderts (sc. des 19. Jh., PS) haben unsere Landsleute an eine Wunderkraft dieser alten Steine geglaubt und das beim Bohren eines solchen Näpfchens gewonnene Steinpulver mit Wasser verdünnt als Medizin selber getrunken (Fiebertrankl!) oder dem kranken Tier eingeflößt.“ In seinem „Weinviertelbuch“ (S. 187) schreibt der gleiche Autor zu Ausschabungen an einer Kirche in Großkrut: „Das bemerkenswerte an dieser vor 1278 erbauten Kapelle (einem Bauteil der Pfarrkirche. PS) ist die Außenwand – sie ist übersät mit kleinen und großen Näpfchen und Rillen. .... Bis in unser 20. Jh. bestand der Volksglaube an die Wunderkraft gewisser Steine, und es wurde das davon ausgeriebene Steinpulver mit Wasser vermischt als Heilmittel verwertet. Die Näpfchen und Rillen sind bei diesem Ausschaben entstanden.“ (Abb. dazu S. 66.) Im gleichen Buch, S. 21: „Über das Gewinnen von Steinpulver aus Steindenkmälern haben vor kurzem deutsche Historiker sogar Urkundenbelege aus dem 16. und 17. Jh. entdeckt; damals standen auf die «hochströfliche Abgötterei», von Bildstöcken Steinpulver abzuschaben, strenge Strafen. ... Und noch im Jahre 1927 erließ der Bürgermeister von St. Anton in der Jeßnitz (in Niederösterreichs Voralpen) eine Anordnung, den sogenannten «Rainstein» mit einem Schutzgitter zu umfassen. Dieser Grenzstein mit der Jahreszahl 1713 galt bei der Landbevölkerung schon lange als Wunderstein, von dem man sich ebenfalls Steinpulver für ein heilsames Trankl abschabte. Der Bürgermeister wollte verhindern, dass dieser alte Stein einmal ganz und gar weggeschabt sein würde. ... Der selige Sarkander von Stockerau wurde durch diese Steinpulverabreibungen zuletzt zu einer so kümmerlichen Figur, dass man seine Erneuerung beschloss.“
J. Jünemann zitiert die Autoren Görges-Spehr: „Weil der heilige Blasius einst einen Knaben vom Erstickungstod durch Herausziehen einer Gräte aus dem Hals geholfen hatte, galt der von der Sankt-Blasius-Kirche in Braunschweig abgeriebene Staub als heilkräftig gegen Bräune, Mandelentzündung, Diphteritis und andere Halsübel, aber auch gegen Zahnweh und sogar gegen die Pest.“
J. Jünemann (in „Rillen und Näpfchen ...“ und „Nachlese ...“) nennt mehrere historische und neuzeitliche Zitate, welche die Verwendung des Steingeschabsels zu Zwecken der Volksmedizin belegen.
K. Deschner zitiert in Band 7 seiner „Kriminalgeschichte des Christentums“ (S. 431) K. Arnold: das Grabmal des Judenschlächters Ritter Arnold d. J. von Uissigheim, genannt „König Armleder“, in der Kirche von Uissigheim (bei Wertheim) wurde „bis ins 18. Jahrhundert insbesondere von den Wallfahrern nach Walldürn besucht, die von Fulda kommend hier Station machten. Der vom Grabstein abgeschabte Sand galt als Heilmittel bei Viehkrankheiten.“
Steinstaub wurde auch bei dem Versuch verordnet, das „Antoniusfeuer“ (Brotseuche, Ergotismus) zu heilen. Q: www.uni-tuebingen.de/uni/afm/science/aust/muensing/mun2.html Das Antoniusfeuer ist während des ganzen Mittelalters nach Missernten sporadisch oder seuchenartig aufgetreten. Zwar wurde 1630 ein giftiger Pilz als Ursache erkannt, doch grassierte die Krankheit in Deutschland noch wenigstens bis 1770 (Manfred Vasold. Pest, Not und schwere Plagen. S. 193).
R. Lenker zitiert in seinem Artikel „Schleif- und Wetzmarken im Kulmbacher Land“ aus der Abhandlung „Die Rund- und Wetzmarken an alten Kirchen“ von Dr. Heinrich Wankel: „... So habe man die Näpfchen an den Kirchenmauern mit Butter ausgeschmiert, weil man dem mit dem herausgeriebenen Steinpulver vermischten Fett eine Heilwirkung bei verschiedenen Krankheiten wie Krämpfen, Augenleiden, Hautausschlägen u.a.m. zuschrieb.“
W. Urban schreibt unter Bezug die Schälchen an der Marienkirche in Greifswald, in denen sich Spuren von Fett fanden: „Eine ähnlich dunkle Färbung zeigen einige Schälchen an der Kirche in Lenzen. Sollte eine solche Behandlung dazu geführt haben, dass einige Schälchenflächen konserviert wurden und besser erhalten sind als die umliegende Steinoberfläche, wie das in Burg auf Fehmarn deutlich wird.“ (mit Abblidung).
Die schwarz inkrustierten S an der Thurnauer Schlosskirche und an der St. Marienkirche von Gunzenhausen könnten für die Praxis sprechen, den erriebenen Sand noch in der Rille mit Fett zu einer Salbe zu binden. Oder stammt der schwarze Belag von einer Tätigkeit, bei welcher Ruß freigesetzt wurde? (s. Fotos WR-Thurnau-Kirche1b und WR-Gunzenhausen1)
Wurde der Staub nicht schon in der Rille bzw. in dem Näpfchen beim Schaben gebunden, so musste er möglichst nahe der Schabestelle aufgefangen werden. Dies hätte z.B. in der hohlen Hand, in einem Lederbeutel, mittels eines Holzlöffels, einer Zunderbüchse oder eines Bechers geschehen können.
Massenhaftes Auftreten gleichartiger S und/oder N an ein und demselben Bau, womöglich noch auf geschlossener Fläche, könnte ein Hinweis darauf sein, dass hier während eines seuchenhaften Krankheitszuges viele Leute gleichzeitig am Werk waren, um Medizinstaub zu erschaben. Einzelne S dagegen sind wohl eher auf gelegentliche Erkrankungen zurückzuführen, oder sind entstanden, um Sand für Amulette zu speziellen Zwecken zu gewinnen (etwa „Mach mein Liebchen gegen Verführungen fest wie Felsgestein“, „Bring mir den Liebsten hierher [zum Ort des Steins] heil zurück“).
zu 4.1.2 Zitat aus einem Aufsatz aus dem „blickpunkt“ 4/1983 der evang. Kirche in Gundernhausen unter der Überschrift „Merkwürdigkeiten unter dem Kirchendach 2“: „... Es war deshalb Brauch, Erinnerungen an die alte Heimat in die neue mitzunehmen. So weiß man von Auswanderern, dass sie einen Beutel Heimaterde auf ihrem Reisewagen mit sich führten. Andere trugen als eine Art schützendes Amulett einen Lederbeutel auf der Brust, der Staub vom heimatlichen Gotteshaus enthielt. Diesen erhielt man durch Schaben mit einem harten Gegenstand an den Sandsteinen der Kirche. Der sich dabei ablösende Sand wurde in den Lederbeutel gefüllt. Im Sandstein entstanden so Wetzrillen, die man an alten Kapellen, Kirchen und Domen oft sehen kann.“
Bis ins 18. Jh. hat sich bei Landsknechten und Fußsoldaten der magische Brauch des „Festmachens“ oder „gefroren Machens“ gegen feindliche Kugeln und Hiebe erhalten. Zitat aus Liebe, Georg, „Soldat und Waffenhandwerk“, S.109: „noch 1726 sieht sich Fleming zu nachfolgender Philippika veranlasst: »Es finden sich bisweilen furchtsame, abergläubische und leichtsinnige Leute, sowohl unter den Offiziers als gemeinen Soldaten, die sich durch allerhand Gaukelpossen wider Schießen, Stechen und Hauen feste machen wollen; sie tragen allerhand Beutelchen bei sich mit mancherlei Kräutern und Wurzeln, auch Pergament-Zettelchen ....«. Könnte in besagten Beutelchen anstatt der Kräuter usf. nicht auch Sand von Bauten aus der Heimat enthalten gewesen sein, dessen sympathetische Macht den Träger für die Rückkehr in die Heimat „fest“ gemacht hätte? (Johann Friedrich Flem[m]ing, ca. 1670-1733, dt. militärwiss. Schriftsteller; „Der Vollkommene Teutsche Jäger“ (Leipzig 1719-21), „Der Vollkommene Teutsche Soldat“ (Leipzig 1726, Neudruck Graz 1967; die zitierte Stelle findet sich S 101).
zu 4.2.1 „Seelenloch“, Begriff bei Gustav Schmidt (Abb. S. 12) und Karl Dill (S. 42). Zitat an letzgen. Stelle: „... Am oberen Längsbalken (des Steinkreuzes; d. Verf.) ist ein rundes Loch von 5 cm Durchmesser und 2,5 cm Tiefe. Ist es ein Seelenloch? Nach altem Glauben trafen sich die Seelen der plötzlich Verstorbenen an Wegkreuzen oder Gabelungen. In den Steinen fanden die Seelen ihre Ruhe, weshalb man öfters kleine Löcher einmeißelte, damit die Seelen ein- und ausgehen konnten. ...“ (Vgl. hierzu die Fundstelle Kleetzhöfe). Sollten N (und S ?) aus dem gleichen Motiv entstanden sein, armen, unselig verschiedenen Seelen eine Zufluchtstätte zu schaffen? Während der vielfältigen Wirren der betr. Zeit sind ungezählte Menschen eines plötzlichen, unversehenen Todes („mala mors“) gestorben. Hatte man ihnen durch Steinlöcher Eintritt in die Geborgenheit eines wie auch immer bedeutsamen Mauerverbands gewähren wollen? A. Leistner schreibt zu einem Rundnäpfchen („Seelenloch“) auf dem Querbalken eines Steinkreuzes: „Nach dem Volksglauben wurde dieses Loch angebracht, damit die Seelen plötzlich Verstorbener ein- und ausgehen, in diesem Steinkreuz ihre Ruhe finden konnten.“
zu 4.2.2 „ ...; unverständliche Zeichen üben ja immer auf den naiven Beschauer eine geheimnisvolle Wirkung aus. Die von bösen, gottlosen, als Pilger und Krämer (von den Gaunern zum „Ausbaldowern“ beliebt!) herumziehenden Leuten an und in Häusern angebrachten „unbekanndten Characteres“, von denen das Sächs. Mandat vom 15. November 1671 spricht und denen es schädlichen Einfluss auf das Leben derer zuschreibt, die sie berühren oder auch nur an ihnen vorübergehen (Cod. Aug. I, 1639), sind zweifellos Zinken gewesen.“ (aus: Fischer, Georg. „Volk und Geschichte“, Kulmbach: Freunde der Plassenburg e.V. [Hg.], 1962, S 259)
zu 4.4.1 Dr. W. Funk behauptet – ohne Belege dafür anführen zu können – „In ähnlicher Weise (sc. wie das „Feuerbohren“; d. Verf.) haben wir uns auch die langen Wetzrillen entstanden zu denken und zwar durch eine hölzerne Scheibe, die in einem vermutlich dreieckigen Gestell durch eine Kurbel rasch gedreht werden konnte. Durch die Reibungshitze entzündet sich schließlich dieses Feuerrad, schliff aber gleichzeitig die Wetzrille aus dem Stein heraus. ... Sie (sc. die Wetzrillen) und die Näpfchen entstanden aufgrund einer liturgischen Vorschrift durch das Feuerrad, bzw. den Feuerbohrer beim Entzünden des österlichen Feuers.“ Meines Wissens wurde das „neue“ österliche Feuer zum Entzünden der Osterkerze zwar aus Stein („e silice“, aus dem Feuerstein [lat. silex]) geschlagen, aber wohl mit dem seinerzeit gebräuchlichen Feuerstahl. Und derartige „liturgische Vorschriften“ der kathol. Kirche sind m. W. nicht belegt. In reformierten Gegenden dürfte sich der angebliche rituelle Brauch des Feuerbohrens oder -reibens nicht erhalten haben. Wie erklären sich dann die vielen Rillen an dem 1806 erbauten ehem. Kommunbrauhaus in der Stadt Creußen, wo man schon 1528 die Reformation eingeführt hat?
zu 4.4.2 Walter Frenzl teilt mir (am 10.11.2003) die Erzählung einer etwa 70 Jahre alten Besucherin seines Lichter-Museums in Walldürn-Wettersdorf mit: „Mein Vater hat berichtet, dass es in seiner Jugend folgendes gegeben hat – An zwei Schnüren oder starken Zwirnen gab es eine Metallscheibe, die zwei Löcher wie ein Knopf hatte und durch diese die beiden Schnüre gezogen waren. Wenn man die Schnüre herumwirbelte (sodass sie verdreht wurden) und dann an beiden Enden zog und wieder nachließ, dann drehte sich die Metallscheibe und man hielt sie an einen Feuerstein, der dann recht fest Funken zum Feuermachen gab.“ Hinsichtlich der „Schleifrillen“ ist diese Nachricht insoweit von Interesse, als man mit einer schnell drehenden Metallscheibe zwar aus Sandstein oder Mauerziegeln keine Funken schlagen kann, jedoch die beschriebene Technik möglicherweise zum Ausschleifen von Rillen taugen kann.
zu 4.4.3 Bei Freudenthal („Das Feuer“, S.226) ist zu lesen: „Die Stahl-Stein-Erzeugung des Karsamstagfeuers spielt übrigens eine Rolle in dem Meinungsstreit über die auffälligen Einmeißelungen, Einschürfungen, Schleifrillen, Ritzen und Scharten, über die sogenannten Teufelskrallen, an alten Kirchen und profanen Bauwerken.“ Und (S. 205) zum Entzünden eines Notfeuers: „Im eichsfeldischen Gerterode kannte man neben dem Feuerreiben aus Holz auf der Drehbank auch das Verfahren, auf die Spindel eines Spulrades ein Stück Eisen zu setzen und so schnell zu drehen, bis Funken heraussprangen, eine Übertragung also des Feuerschleifens auf Metall, wo es technisch zum Feuerschlagen wird.“ (Mir wird daraus nicht klar, worauf das umgetriebene Eisen schlug, um Funken zu erzeugen. Am wahrscheinlichsten doch wohl auf Quarz- oder Flintstein. Jedenfalls wäre aber die Regel, dass ein Notfeuer durch die archaische Technik von Reibung von Holz auf Holz zu entzünden sei, durchbrochen.)
zu 4.4.4 Gegen die Theorie vom Zustandebringen den S mit scheibenförmigen, mittels Handkurbel gedrehter „Feuerräder“ scheint mir eine Beobachtung im Kloster Speinshart zu sprechen: Dort findet sich beiderseits der inneren Toröffnung des nördl. Torbaus je ein hochrechteckiges Fenster von 47 cm Breite und 132 cm Höhe. In deren Sandsteingewände sind etliche gut ausgeprägte S eingetieft, deren Querschnitt – von einer Ausnahme abgesehen – derart symmetrisch ist, dass auf senkrechten Werkzeugansatz geschlossen werden muss. (Lediglich eine S scheint von außen unter schrägem Ansatz gemacht worden zu sein.) Das Vermessen zweier Rillen ergab Längen („l“)von 20 bzw. 22 cm, größte Tiefen („t“) von 2 bzw. 6 cm. Nach der Formel r = (l2 + 4t2) : 8t ergibt sich ein Radius („r“) der hypothetischen Schleifscheibe von 26 bzw. 13 cm, was Durchmessern von 52 cm bzw. 26 cm entspricht. Zumindest die erste Scheibe hätte also bei dem aufgrund der symmetrischen Rillenform anzunehmenden senkrechten Ansatz nicht in die Fensteröffnung gepasst – schon gar nicht, wenn das Rad in einem Gestell gelagert gewesen sein soll.
Hellmich verwirft die Theorie des Feuerschlagens bzw. -bohrens und neigt zu dem Erklärungsversuch der Gewinnung heilkräftigen Steinstaubes. Er empfiehlt zur weiteren Klärung das Studium „älterer Zauberbücher und einzelne(r) Formeln, die sich ja an scheinbar gar nicht damit in Zusammenhang stehenden Stellen, wie z.B. in Gebet- und Predigtsammlungen verstecken“. Auch mir scheint das Studium alter Gerichtsakten, kirchl. Visitationsberichte, (volksheikundlicher) Rezeptsammlungen oder Zauberbücher sinnvoll. (Peter Thaddäus Lang schreibt unter „Ein grobes, unbändiges Volk“ – Visitationsberichte und Volksfrömmigkeit [Münster: Aschendorff, 1994. KLK 54, S.50]: „... Die fast ausschließlich auf mündlicher Tradition beruhende Volkskultur hinterließ also die meisten schriftlichen Spuren dort, wo sie mit den auf Schriftlichkeit fußenden bürokratischen Apparaten von Kirche und Staat kollidierte. Da die Kirchenvisitation intensiv zum Aufspüren von inkriminierten Erscheinungsformen der Volkskultur eingesetzt wurde, gehören die Visitationsberichte zu den wichtigsten Quellen für deren Erforschung.“) Diesem Hinweis folgend habe ich im April 2002 begonnen, die folgenden transskribierten und edierten kirchl. Visitationsberichte zu studieren: 1.) Mai, Paul. „Das Bistum Regensburg in der bayerischen Visitation von 1559“ (Regensburg: Verlag des Vereins für Regenburger Bistumsgeschichte, 1993). Das außerordentlich interessante Werk gibt Aufschluss über die Verfassung der kathol. Pfarreinen des Bistums (was die Pfarrer, deren Alimentation, Bildung, Amtsführung und Lebenswandel, das Pfarrhausgesinde , die Pfarrkirnder anbetrifft), enthält aber keine – auch nur allgemeine – Bemerkungen über abergläubische Praktiken, oder gar spezielle Hinweise auf Schabespuren. 2.) Hirschmann, Gerhard. Kirchenvisitation im Landgebiet der Reichsstadt Nürnberg 1560/61 (Neustadt/Aisch: Degener & Co, 1994). Wiederum eine bemerkenswerte Quelle, diesmal zum Leben der lutherischen Pfarrer im Nürnberger Land im 16. Jh.; über geistl. Bildung und Lebenswandel der Pfarrer und der ihnen Nachgeordneten usf. aber hier auch darüber, „Ob sie etliche unter ihrer gemain wissen, die mit wahrsagerei umbgehen ....“ – also über abergläubische Praktiken der Pfarrkinder. Zum Teil wiedeholt angezeigt werden: Zauberei, Wahrsagerei, Götzendienst, Wetterläuten, Abbrennen von Wetterkerzen, Anfassen des Glockenseils in zauberischer Absicht, Anhexen eines Kindes (sc. einer Magd, die trotz dirnenhaften Umgangs kindlos bleibt), Vernageln (gegen Zahnweh) usf.
Form und Abmessung frühneuzeitlicher und älterer Feuerstähle (Feuerschläger) sind teilweise von großer Konstanz und könnten durchaus als Werkzeuge zur Hervorbringung von Rillen und Näpfchen in Frage kommen. (Feuerstähle habe ich im Beleuchtungsmuseum Walldürn, in der Sammlung Graf Luxburg in Schweinfurt und im volkskundlichen Museum Schwerin-Mueß gesehen. Abb. finden sich u.a. im Ausstellungskatalog „Brandstifter!“ des Kulturkundl. Museums Kevelaer.) Zudem gehörten sie bis ins 19. Jh. zu Gegenständen des täglichen Gebrauch, die für Jedermann verfügbar waren und vielfach stets mitgeführt wurden. Walter Frenzl, der Leiter und Initiator des Lichtermuseums Walldürn-Wettersdorf, führt aus, dass der Schlagrand des des Feuerstahls nicht angerostet sein darf, da es sonst keine Funken schlagen würde; er gibt zu überlegen, ob „die Kratzspuren bei der Entfernung des Rostes“ entstanden sein könnten. - Eigene Versuche des Ausschleifens von Rillen auf Sandstein haben ergeben, dass weniger harte Metalle als Stahl, etwa Schmiedeeisen, nicht tauglich sind, da sie metallischen Abrieb in der Schleifspur hinterlassen, der ein weiteres Eintiefen be- oder gar verhindert.
Sowohl an natürlich anstehenden Sandsteinfelsen (s.u., Bild Eichberg Verwitterung) wie an behauenen Quadern aus Sandstein (s. Bild Veßra1, Kloster Veßra) finden sich auffällig gleichförmige und regelmäßige näpfchenartige Eintiefungen, die jedoch von natürlicher Auswitterung und nicht von irgendeiner menschlichen Tätigkeit herrühren. Manche Funde von N (Bilder Neustädtlein1a, Neustädtlein1b, Thurnau20) sind von fraglicher Herkunft.
Anlässlich einer Studienreise nach Ägypten im November 1999 fand Dr. Herbert Schels (HS) an vielen altägytischen Sandstein-Tempelbauten Schleifspuren, die sich von den unseren in nichts unterscheiden. Seinen Erkundigungen nach waren die betroffenen Bauten zeitweilig von koptischen Christen als Klöster oder Kirchen genutzt worden. Laut Auskunft eines historisch gebildeten ägyptischen Führers sollen die Male von Kopten stammen und mit einem bestimmten Teufelsabwehrzauber zusammenhängen. Die frappierende Ähnlichkeit der ägyptischen S mit den bei uns gefundenen legt den Gedanken an gemeinsame Zwecksetzung und Technik nahe. Vorerst bleibt dies jedoch reine Spekulation.
Originalfotos (S zeigend) von H. Schels:
1/76 Tempel v. Karnak, Sphingenallee (s. Foto KarnakHS)
1/77 Tempel von Karnak, Sphingenallee, Sockel
2/40 Horus-Tempel v. Edfu, Ostwand des Innenhofes
2/41 Horus-Tempel v. Edfu, Ostwand des Tempeleingangs
2/58 Isis-Tempel auf d. Insel Philae, Säule im Tempelvorplatz
2/59 Isis-Tempel auf d. Insel Philae, hintere Außenwand
2/60 Isis-Tempel auf der Insel Philae, rechte Wand des Eingangspylons zur Mammisi
2/63 Insel Philae, Trajans-Kiosk, südl. Außenwand (s. Foto PhilaeHS)
W. Eitelmann zeigt in seinem Buch „Wetzrillen und Schabnäpfchen“ (SS. 324, 325) Wetzrillenbilder aus Ägypten, aufgenommen von Herrn Thomas Bartz, Edenkobener Straße 3, 67482 Venningen/Pfalz
In dem Bild-Text-Band „Ägypten - eine Reise durch das Land der Pharaonen“ (Zürich, Stuttgart: Belser, 1989) finden sich S auf den folgenden Abbildungen:
S. 25 Relief in Medinet Habu, Sieg des Ramses, S re.u.
S. 29 Portal des Ptolemaios III. Euergetes in Karnak. Viele S lks, wenige re am Fuß der
Torwand.
S. 34 Relief des Amuntempels in Karnak, S u. N a. u. Bildrand
S.146 Hathor-Tempel bei Dendera, viele S an der Säulenfassade
über dem Fundament
S.164 Luxor, SO-Kolonnade des Hofs v. Ramses II., S am Sockel der lk. Standfigur von
Amenophis III.
S.218 Isis-Heiligtum auf der Insel Philae, viele S an den
Säulen der Kolonnade, in verschiedenen Höhen gestaffelt
In dem Dumont Reiseführer „Ägypten“ findet sich auf einer der ersten Seiten eine Abbildung des Reliefs des Gottes Horus im großen Tempel des Amun Ra in Karnak. Zwischen den Beinen des Gottes und an der Basis darunter viele S in zwei übereinanderliegenden Reihen.
In Band III. der Reihe „Ägypten“ von Jean Leclant (Hg.), München: C. H. Beck, 1981, finden sich S auf folgenden Abbildungen: Abb. 16 Dendera, Hathor-Säulen im großen Hypostylsaal (S über der Basis der Säulen) Abb. 21 Kom Ombo, Doppeltempel des Sobek und des Haroeris (S in der Außenseite der Umfassungsmauer) Abb. 29 Philae, westl. Säulengang des Isis-Tempels (S im unteren Teil der Rundsäulen) Abb. 35 Dendera, Hathor-Tempel, Seitentür in der Ostmauer des großen Hypostylsaales (Sandst. S außen über und lks. der Tür) Abb. 40 Dendera, Hathor-Tempel: Neujahrskapelle (Sandst.) (S re. neb. einernach O weisenden Tür) Abb.248 Naga, Löwentempel, westl. Außenmauer (Sandst.) (S und N, bes. in der 2. Quaderreihe von unten) Abb.276 Karnak, Osiriskapelle (S re. u. lks. des Durchgangs)
In Band II. der gleichen Reihe S auf den folgenden Abbildungen: Abb. 7 Karnak, Bündelsäulen im Tempel des Amun Re (1 deutliche S an der drittletzten Säule) Abb. 11 Karnak, Tempel des Amun Re (Viele s an der Schriftenwand links der Statuen) Abb. 19 Luxor, Tempel des Amun Re (S hoch oben an den beiden Säulen zwischen den bzw. rechts der Kolossalstatuen, und am Sockel der linken Statue; Sandstein)
In „Archäologie - Die großen Abenteuer und Entdeckungen“ H. G. Niemeyer, R. Pörtner [Hgg.], Erlangen: Karl Müller Verlag, 1993) finden sich S auf folgenden Abbildungen:
S. 26 Karnak, Allee der Sphinxe mit den Widderköpfen. S in der lk. Flanke der vordersten
Widderfigur.
SS. 172/173 Luxor, erster Hof des Großen Tempels, S in verschiedenen Höhen an den Säulen.
In „Ägypten - von der prähistorischen Zeit bis zu den Römern“ (D. Wildung. Köln: Taschen, 1997) sind S auf folgenden Abbildungen zu sehen: S. 200 Edfu, Pronaos des Horus-Tempels, S über den Basen der Pflanzensäulen S. 209 Isistempel auf Philae, S an der S-(Front-)Seite der inneren Pylone
Bei J.Jünemann (2) findet sich ein bebilderter Hinweis auf „zahlreiche Wetzkerben an einem Sphinxfragment in Luxor (Ägypten) aus der Zeit von 1200 vor Christus“. Er schließt daraus auf einen „weltweit verbreiteten Ritus“.
In “Ägypten – Welt der Pharaonen” (R. Schulz, M. Seidel [Hg.], Köln: Könemann, 1997) S. 30, Abb 40, Statue des Gottes Min (Kalkstein) aus dem Tempel von Koptos ca. 8 kreisrunde, hoch- und querovale Ausschliffe an Rumpf und lk. Oberschenkel. S. 169, Abb. 41, Karnak, Tempel des Amun Re, nördl. Außenwand des Hypostyls, viele S in den Reliefs zu Kriegszügen Sethos´ I.
Unseren “Schleifrillen” entsprechende „Wetzrillen“ (WR) fanden Inge und Ulrich Mey anlässlich einer Rundreise auf Mallorca (April 2000; zit. nach HS):
Palma de Mallorca: Kirche San Francisco. Gotische Kirche, Baubeginn 1281,1580 durch Feuer teilweise zerstört. An der Außenwand links des Portals 3 große WR, rechts 7 kleine WR. Campos del Puerto: Pfarrkirche San Julian. 1248 in der Bulle des Papstes Innozenz IV. genannt. 1858 bis 1873 restauriert und erweitert. Der Glockenturm datiert vom Jahr 1597. Ca. 15 WR beiderseits der Befestigung eines Zauns. Lluchmayor: Pfarrkirche San Miguel. 1248 in der Bulle des Papstes Innozenz IV. erwähnt. Der heutige Bau stammt vom Anfang des 18. Jahrhunderts, der Glockenturm von 1820. 6 WR rechts von der Seitentüre. Santanyi: Pfarrkirche San Andres Apostol. Die Grundsteinlegung war am 25. Juli 1786, die Einweihung 1811. 2 WR an der Nordseite der Kirche, 1 WR an der Südseite. Casa Rectoral, das alte Pfarrhaus, gegenüber der rechten Kirchenseite, wurde Ende des 16. Jahrhunderts restauriert (Calle Sol Nr. 9 ??). Rechts und links der Haustüre 2 – 3 WR.
Dietmar Kraatz hat im September 2004 in Palma de Mallorca an der ehem. Börse „La Lonja“, einem got. Bau aus der 2. Hälfte des 15. Jh., viele S an der nach Osten (zum Marktplatz hin) weisenden Front festgestellt. Die Rillen (20 – 30/90°/60) waren hauptsächlich am Portalgewände und in der Mauer beidseits des Portals gelegen (Fotos Mallorca 1-3 DK). Das Gebäude macht wegen seiner prächtigen Gestaltung und wegen der am Außenbau angebrachten Skulpturen von Schutzheiligen der Kaufmannschaft durchaus den Eindruck eines Sakralbaus.
Ebenfalls von Dietmar Kraatz stammen Funde von Wetzrillen an den Tempelbauten von Karnak, Luxor und Philae (Januar 2006, 8 Fotos). Die Tempel sind nach Auskunft ägyptischer Fremdenführer während der Spätantike als koptische Kirchen benutzt worden; somit könnten die Rillen einem christlich motivierten Brauch zuzuschreiben sein.
Eine Bilanz (Stichtag 06.09.2006) ergibt, dass sich von den bis dahin aufgelisteten 1220 Funden 665 (54,51%) an Sakralbauten (Kirchen, Kapellen, Klöstern, Synagogen), und 555 (45,49%) an Profanbauten und Sandsteinwerken aller Art sowie auf natürlich liegendem Fels befinden.
Sakral
Kirchen, Kapellen 591
Klöster 70
Synagogen 4
Profan
Wohnhäuser 144
Gewerbebauten (Schmieden, Brauhäuser, Backöfen, Lagerhäuser etc.) 33
Rats-, Amtshäuser 49
Schulen 13
Pfarrhäuser, Dekanate, Mesnerhäuser 31
Burgen Burgruinen 38
Schlösser 31
Tortürme, Tore, pfeilerflankierte Einfahrten 96
Marterl, Steinkreuze, Denkmäler, Epitaphien 58
Brunnen 4
Pranger 2
säulengetragene Tanzböden 5
Stadtmauern, freistehenden Mauern (an Kirchöfen, Grundstücken) 38
Stufen, steinerne Sitzbänke 3
Brücken 4
natürlich anstehender Fels 6
Bei einer Interpretation der Zahlen bzw. der Zahlenverhältnisse ist zu bedenken:
1.) dass wahrscheinlich die meisten der an der Rillen- und Näpfchensuche Beteiligten vor allem – wo nicht ausschließlich – an Kirchen gesucht haben, und dass infolgedessen viele S und N an weniger bedeutenden Gebäuden unentdeckt geblieben sein könnten;
2.) dass sehr viele Fundstellen an Privathäusern durch Umbau oder Abriss verloren gegangen sind, wogegen sich Großbauten wie Kirchen oder Schlösser viel häufiger unverändert erhalten haben;
3.) dass möglicherweise anfänglich (d.h. in Sinne unserer S und N: im Spätmittelalter) ausschließlich an Sakralbauten geschliffen und geschabt wurde, und der Brauch erst später “abgesunken” – profanisiert worden – ist, und auch an Sandsteinbauten nichtkirchlicher Zweckbestimmung geübt wurde. (An dieser Stelle seien die Rillen an der 1728 errichteten Synagoge in Memmelsdorf/Ufr. erwähnt, deren Außenbau [Sandsteinquader] die Zerstörung von 1938 überstanden hat.
4.) dass profane Steinbauten in größerer Zahl erst in der Neuzeit errichtet worden sind, dass somit an den Holz- und Fachwerhäuser des MA. und der frühen Neuzeit sich kaum Steinmauern zum Schleifen angeboten haben konnten. Daraus wäre der relativ hohe Anteil von Sakralbauten und Wehrmauern an den Fundstellen erklärlich.